Tidalectics
2. Juni–19. November 2017 | TBA21–Augarten, Wien


Die Ausstellung Tidalectics präsentiert dreizehn internationale Künstler_innen, deren Arbeiten die Meere in ihrer kulturellen, politischen und biologischen Dimension untersuchen – sei es in der Auseinandersetzung mit vom Menschen verursachten Ereignissen wie dem Klimawandel und dem Anstieg der Meeresspiegel oder im Entwerfen menschlicher und „mehr-als-menschlicher“ Beziehungen. Die von Stefanie Hessler kuratierte Ausstellung zeigt neben herausragenden Arbeiten aus der TBA21 Sammlung neun neu kommissionierte Arbeiten, von denen viele im Rahmen von Expeditionen der TBA21–Academy im Pazifik entstanden sind. 

Tidalectics betrachtet die Welt aus der Perspektive der Meere und versucht, eine alternative Form der Auseinandersetzung mit ozeanischen Lebensräumen zu entwerfen. Gelöst von einer im Festland verankerten Denk- und Daseinsweise, reflektiert die Ausstellung das rhythmische Fließen des Wassers und den unaufhörlichen Wechsel der Gezeiten. Als Titel der Ausstellung dient ein Neologismus des aus Barbados stammenden Poeten und Historikers Kamau Braithwaite, mit dem er sich auf die anschwellenden und abebbenden Bewegungen der Tiden bezieht. Tidalectics begreift Geschichte als etwas von Wellen Geformtes, wobei der Bogen von Meeresüberquerungen bis hin zu Tauschsystemen, Mythen und mikrobischen Ursprüngen reicht und kulturelle wie materielle Anpassungs- und Wandlungsprozesse beleuchtet. Um die ineinanderfließenden Polaritäten aus Gegenwart und Geschichte, Wissenschaft und Poesie, Wegen und Wurzeln zu verstehen, spannt die Ausstellung ein dichtes Beziehungsgeflecht, in dem es nicht zuletzt um unser Verhältnis – als meist das Festland bevölkernde Menschen – zu den Meeren und ihren zahlreichen und mannigfaltigen Bewohnern geht.

Tidalectics ist die erste Ausstellung der TBA21–Academy. Mit dem Ziel, zu einem tieferen Verständnis der Ozeane beizutragen, wurde die Academy 2011 von Markus Reymann als bewegliche, die Meere kreuzende Plattform konzipiert, auf der Künstler_innen, Wissenschaftler_innen und Denker_innen unterschiedlichster Disziplinen zusammenkommen, um sich gemeinsam der dringlichsten Umweltprobleme unserer Zeit anzunehmen. Die Laufzeit der Ausstellung überschneidet sich mit der ersten UNO-Meereskonferenz, die vom 5. bis 9. Juni 2017 in New York stattfindet. Dort zeigt die TBA21–Academy am „Tag des Meeres“ (8. Juni) eine Performance von Laura Anderson Barbata, die auf einer der Expeditionen nach Papua-Neuguinea konzipiert wurde.

Begleitet wird Tidalectics von einer Serie von Spoken-Word-Performances, die jeden Freitag auf der TBA21–Ephemeropteræ-Bühne im Augarten stattfinden. Zur Ausstellung entstehen einzelne Podcasts der Tidalectics Radioserie (in Zusammenarbeit mit NTS Radio und Radio Orange 94.0) sowie eine umfangreiche Publikation.

Künstler_innen und Arbeiten der Ausstellung 

Eduardo Navarro sucht nach einer Logik, die von den Meeren selbst ausgeht. Seine neu kommissionierte filmische, zeichnerische und skulpturale Arbeit Hydrohexagrams (For Tahuata) (2017) ist das Ergebnis einer Reihe glücklicher Fügungen während einer Expedition der TBA21–Academy zu den Marquesas-Inseln im Südpazifik. Im Anschluss an die Expedition reiste Navarro mit einem eigens produzierten, vergrößerten Set aus Münzen, wie sie beim alten chinesischen Orakel I Ging verwendet werden, erneut zu dem Archipel. Im Dorf Hapatoni, wo die Idee ihren Ursprung hatte, schlug der Künstler den Einwohner_innen den Gebrauch der Münzen und des I Ging Buchs vor, um eine Frage an den Ozean zu richten. Die drei Münzen wurden sechsmal nacheinander in die Fluten geworfen und sind nun in der Ausstellung zu sehen, während ein zweites I Ging Set als öffentliches Kunstwerk im Kunsthandwerksmuseum in Hapatoni verbleibt, und von den Bewohner_innen auch weiterhin verwendet werden kann. 

Alexander Lee nahm an derselben Reise in seiner Heimat Französisch-Polynesien teil. Sein Video Me-ti'a – An Island Standing (2017) untersucht unser kollektives Bewusstsein hinsichtlich Inseln und vermengt dokumentarische Bilder einer Expedition von Lee und seinen Kollaborateuren mit der Legende von Vaita. Im Jahr 1760, sieben Jahre bevor der britische Marineoffizier Samuel Wallis Tahiti erreichte, erschien dem Priester Vaita aus Raiatea die Vorahnung, dass ein Kanu ohne Ausleger auf den Inseln landen würde. Gemeint war die Ankunft Wallis’ auf der HMS Dolphin und damit die „Entdeckung“ Tahitis, die das Schicksal der Region für immer verändern sollte. 

Newell Harry beschäftigt sich mit Kreol- und Pidgin-Sprachen, alternativen Tauschsystemen sowie dem Verständnis von Wert und Währung in den Pazifikregionen. Die Ausstellung zeigt zwei seiner Arbeiten aus der TBA21 Sammlung: Untitled (Objects and Anagrams for R.U. & R.U. (Part II) mit Objekten aus dem Kula Ring, einem überlieferten System zum zeremoniellen Austausch von Geschenken; sowie Untitled (Anagrams and Objects for R.U. & R.U. (Part I), Anagramme, die auf traditionelle tongaische ngatu-Stoffe gedruckt wurden (beide Arbeiten von 2015). Die Tücher werden von einer Generation an die nächste weitergegeben und erlangen ihren Wert, ähnlich wie die Kula-Objekte, über Provenienz. Harry bedruckte diese organischen Banner mit Begriffen von jeweils vier Buchstaben, wobei er Wörter wie KULA und R2D2 einander gegenüberstellt, oder GOYA seinem Anagramm YOGA. Das Ergebnis ist ein Potpourri an Referenzen aus unterschiedlichsten Kontexten, die pazifische Geographien, Kunstgeschichte und Populärkultur miteinbeziehen. 

Ähnlich wie auf einem Boot bringt Em’kal Eyongakpas neu kommissionierte Installation Gaia beats/bits III-i/doves and an aged hammock (2017) den Boden unter unseren Füßen zum Wanken. Ein dazugehöriges Fischernetz enthält Strandgut und persönliche Gegenstände von Menschen, deren Leben von Meeresüberquerungen geprägt wurde, während eine Tonspur die Installation mit poetischen Erzählungen und rhythmischen Sounds unterlegt. 

Darren Almonds Video A (2002) aus der TBA21 Sammlung entführt in eine unendlich weiße, menschenleere antarktische Welt. Der Soundtrack vermittelt zwischen träumerischer Ruhe und düsterer, dröhnender Gefahr. Das Video entstammt einer anderen geographischen Region als viele der Arbeiten in der Ausstellung; jedoch sind die Wasserpegel durch das Ansteigen der Temperaturen und der damit einhergehenden Schmelze der Polkappen überall auf der Welt im Steigen begriffen, was sich in scheinbar voneinander unabhängigen Geographien gleichermaßen auswirkt.   
 
Das Video Iroojrilik (2016) von Julian Charrière aus der TBA21 Sammlung entstand vor dem Hintergrund der Kernwaffentests auf dem Bikini-Atoll. Charrières atemberaubende Unterwasseraufnahmen fangen den Verfall der Kernwaffentest-Infrastruktur in einer atemporären Schleife aus Leben, Tod und Wiedergeburt ein. Begleitet von einem Soundtrack von Edward Davenport, der fortlaufend Spannungsmomente einflicht, suggeriert der Film fließende Übergänge von Anfang und Ende – das erste Licht des Tages in einer neuen pazifischen Ära und das Niedersenken der Nacht für präanthropozäne raumzeitliche Konstellationen. 

Eine von Ute Meta Bauer geleitete Expedition der TBA21–Academy zum Tuamotus-Archipel in Französisch-Polynesien markierte den Ausgangspunkt für Atif Akins Animations- und Publikationsprojekt Tepoto Sud morph Moruroa (2017). Mithilfe einer vom Mathematiker Felix Klein im späten 19. Jahrhundert entwickelten Gleichung zur Darstellung von Dünungen und Wellen transformiert Akins Animation die Atolle Tepoto Sud und Moruroa, analog zur Verformung von Materie durch radioaktive Strahlung. Akin untersucht er die Entstehung neuer Mythologien als Äquivalent zu den Deformationen von Codes und Materie – Folgen der 193 Kernwaffentests, die im Tuamotus-Archipel unternommen wurden. 

Der Musiker, Wissenschaftler, Künstler, Iridologe, Herbalist und Erfinder Ariel Guzik stellt mit The Nereida Capsule (2015) aus der TBA21 Sammlung ein Instrument für die Kommunikation mit Walen vor. Darin nimmt der Wunsch nach einer neuen Art der Begegnung zwischen Mensch und Meeresbewohner_innen materielle Gestalt an, jenseits von Forschungszwecken und ohne konkreten Nutzen. Mit seinem Nature Expression and Resonance Research Laboratory beschäftigt sich Guzik seit dreißig Jahren mit Physik, Mechanik, Elektrizität und Magnetismus, und erfindet Mechanismen, die der Natur durch Musik eine Stimme verleihen. 

Susanne M. Winterlings Installation Glistening Troubles (2016) beschäftigt sich mit biolumineszierenden, bei Berührung aufleuchtenden Dinoflagellaten als Indikatoren für den Gesundheitszustand von potenziell toxischen Küstengewässern. Die Arbeit resultierte aus Winterlings Residency an der TBA21 Alligator Head Foundation in Jamaika. In einem Videointerview gewährt ein Fischer aus Rock Einblick in die medizinischen Eigenschaften von Algen bei der Behandlung von Hautinfektionen – eine Praxis, die lokal seit Jahrhunderten bekannt ist. Die Arbeit rückt die Haut – durch die wir die Welt um uns herum berühren – und leuchtende Displays – unsere Schnittpunkte mit der digitalen Realität – in metaphorische Nähe. Sie befasst sich mit der Verschränkung von Information in einander überlappenden analogen und virtuellen Welten ebenso wie mit der Solidarität zwischen den Arten und verweist dabei auf unsere lebhaften Verflechtungen mit anderen Körpern. 

Mit der Installation Tamoya Ohboya (2017), die Quallen in den Mittelpunkt rückt, erkundet Tue Greenfort das Bewusstsein dieser Meeresorganismen sowie komplexe Ökosysteme. Quallen bewohnen das Meer seit über 500 Millionen Jahren; mit der Erwärmung der Ozeane breiten sie sich in Regionen aus, in denen sie zuvor nicht heimisch waren. Eva Hayward, die zu Gender- und Umweltthemen forscht, beschreibt wie Quallen in ihrer uns fremden Art zu wissen und zu fühlen die anthropozentrische Logik ebenso herausfordern wie epistemologische Bändigung. Sie haben weder Knochen noch ein zentrales Herz oder Gehirn und ihre Nerven verteilen sich netzartig über den Körper. Ihr Lebenszyklus und ihre Fortpflanzungsmethoden unterscheiden sich von denen menschlicher sowie zahlreicher land- und wasserbewohnender Organismen. Ihre Andersartigkeit bringt unsere Vorstellung von Bewusstsein, Ethik und unserer Beziehung zu mehr-als-menschlichen Wesen ins Wanken und ruft nach einem Wandel im planetarischen Bewusstsein. 

Janaina Tschäpe füllt ihre Leporellos mit fantastischen Zeichnungen, in denen Faktisches und Fiktives aufeinandertrifft. Dazu lässt sie sich von Berichten des Meeresbiologen David Gruber über Tiefseekreaturen und Extremophile inspirieren. Der Prozess erinnert an Praktiken aus dem 19. und 20. Jahrhundert, als sich Künstler_innen Forschungsreisen anschlossen oder ihren Zeichnungen Artenproben zugrunde legen, wie sie etwa Alexander von Humboldt oder Charles Darwin von ihren Reisen mitbrachten. Tidalectics zeigt zwei Leporellos mit Zeichnungen von Tschäpe und wissenschaftlichen Anmerkungen von Gruber. Die Titel Blood, Sea (inspiriert von Italo Calvinos Kurzgeschichte) und Fictionary of Corals and Jellies (beide 2017) verweisen auf die Verschmelzung eines Inventars und Wörterbuchs zur Unterwasserwelt mit fiktiven Elementen. 

Sissel Tolaas setzt sich wissenschaftlich und künstlerisch mit Gerüchen auseinander. Für ihre Arbeit Ocean SmellScapes (2017) sammelte und synthetisierte sie Gerüche der Meereslandschaft Costa Ricas, die derzeit einen ökologischen Wandel durchläuft. Der Geruchssinn ist der ursprünglichste unserer Sinne, er informiert uns unmittelbar über die uns umgebende Wirklichkeit, weckt dabei spezifische Emotionen und ruft erhebliche Reaktionen hervor. Tolaas sammelte olfaktorische Informationen zu den unterschiedlichen unsichtbaren Facetten des Meeres – kultureller, historischer, geographischer, sozialer und linguistischer Art –, um sie in Anbetracht ihres bevorstehenden Verschwindens von ihrem Ursprungsort zu erhalten.

Jana Winderens Soundinstallation bára (2017) liegen Aufnahmen mit dem Hydrophon zugrunde, die auf verschiedenen Expeditionen der TBA21–Academy und anderen Reisen entstanden, vom Nordpol bis zum Karibischen Meer und Pazifischen Ozean. Die Komposition setzt sich aus verschiedenartigsten Geräuschen zusammen: vom Klang der Wellen und den unverkennbaren Klicklauten der Krustentiere über das Grunzen kleinerer Fischarten bis hin zu den Gesängen der Wale. Maritime Ökosysteme reagieren äußerst empfindlich auf Lärmbelästigung und die akustische Qualität der maritimen Umwelt liefert Aufschlüsse über den Zustand ihrer Ökosysteme. Das Stück wird in der Ausstellung jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten gespielt, je nach Ebbe und Flut der von Wien aus am nächsten gelegenen Küste im italienischen Triest.
Ebbe/Flut Zeiten
2. Juni–19. November 2017
Dauer
2. Juni–19. November 2017
Mi & Do 12–17 Uhr
Fr–So 12–19 Uhr
Öffnungszeiten
Mi & Do 12–17 Uhr
Fr–So 12–19 Uhr
TBA21–Augarten, Scherzergasse 1A, 1020 Wien
ort
TBA21–Augarten, Scherzergasse 1A, 1020 Wien
freier eintritt
Atif Akin, Darren Almond, Julian Charrière, Em’kal Eyongakpa, Tue Greenfort, Ariel Guzik, Newell Harry, Alexander Lee, Eduardo Navarro, Sissel Tolaas, Janaina Tschäpe & David Gruber, Jana Winderen, Susanne M. Winterling
künstler_innen
Atif Akin, Darren Almond, Julian Charrière, Em’kal Eyongakpa, Tue Greenfort, Ariel Guzik, Newell Harry, Alexander Lee, Eduardo Navarro, Sissel Tolaas, Janaina Tschäpe & David Gruber, Jana Winderen, Susanne M. Winterling
Stefanie Hessler
kuratorin
Stefanie Hessler




 
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