Die filmischen Werke des indischen Künstlers und Filmemachers
Amar Kanwar der letzten zwei Jahrzehnte erkundeten die Verbindungen zwischen Politik, Macht und Gewalt und der Möglichkeit von Gerechtigkeit im Kontext des indischen Subkontinents.
The Sovereign Forest (2011–) beschreibt den Konflikt zwischen der ländlichen Bevölkerung, der Regierung und den Bergbauunternehmen im Ostindischen Odisha. Seit Jahren hält Kanwar die destruktiven Folgen der Industrialisierung filmisch fest, die weite Teile der Landschaft teilweise für immer zerstört haben. Mit der Ansiedelung großflächiger Bergbau- und Industrieanlagen in diesem traditionell landwirtschaftlichen Gebiet durch indische und internationale Unternehmen, hat sich Odisha zu einem Schlachtfeld der Enteignung und Vertreibung gewandelt.
Die Gültigkeit von Dichtung als mögliches Beweismittel vor Gericht; der Diskurs über das Sehen, Verstehen und Mitgefühl; die Frage nach Gerechtigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung – fügen sich in eine Konstellation von bewegten Bildern und Stills, Texten, Büchern, Flugblättern, Musik, Objekten, Samenkörnern, Geschehnissen und Prozessen. – Amar Kanwar
Seit über einem Jahrzehnt hält der indische Künstler und Filmemacher
Amar Kanwar die destruktiven Folgen der Industrialisierung filmisch fest, die weite Teile der Landschaft der ostindischen Bundesstaates Odisha teilweise für immer zerstört haben. Mit der Ansiedelung großflächiger Bergbau- und Industrieanlagen in diesem traditionell landwirtschaftlichen Gebiet durch indische und internationale Unternehmen hat sich Odisha zu einem Schlachtfeld der Enteignung und Vertreibung gewandelt. Hochwertige Bauxit- und Eisenerzablagerungen wurden in gewaltige Abbaugebiete verwandelt und sind über massive Infrastrukturprojekte gespeist. Der gewaltsame Konflikt zwischen lokalen Gemeinschaften, Staat und Unternehmen um die Kontrolle über agrarwirtschaftliches Land, Wälder, Flüsse und Mineralbestände führte in der Folge zu Zwangsumsiedlungen indigener Stammesgemeinschaften, Kleinbauern und Fischern und ließ eine nicht abreißende Flut der Gewalt, Unterdrückung und Brutalität entstehen, die ebenso unvorhersehbar wie unsichtbar ist.
The Sovereign Forest bringt Indizien zum Vorschein, die an diesem Schauplatz eines „modernen Krieges“ verborgen und unterdrückt wurden. Statt einen dokumentarischen Blick auf das Verbrechen wie es tatsächlich passiert zu werfen, inszeniert Kanwar gefundenes und gesammeltes Bildermaterial, Spuren und Aufzeichnungen, die das Faktische übersteigen und eine reichhaltigere, fließende und poetische Perspektive auf die Realität und auf die Bedeutung, dessen was passiert, eröffnen.
The Sovereign Forest schafft so eine Reihe von Voraussetzungen, die die Idee von „Poesie als Evidenz" darlegen. Poesie trägt demnach die Möglichkeit in sich vielfältige und kontingente Beziehungen zwischen Gewalt, Erinnerung und Sprache auszudrücken und, ganz spezifisch, unterschiedliches Vokabular für unterschiedliche Erinnerungen und Archivierungsarten für das Erzählen einer Geschichte zu schaffen.
The Sovereign Forest ist daher weniger bloß Ausstellung, als vielmehr eine ständig mutierende und sich wandelnde Institution, entstanden aus dem Zusammenschluss einer Gruppe von KünstlerInnen, Journalisten, Bauern und Aktivisten in Indien. TBA21 arbeitet mit Amar Kanwar seit 2006 eng zusammen. In diesem Jahr fand die gemeinsam mit Public Press getragene Produktion von
The Lightning Testimonies (2007) statt. Im Zuge dieser Kooperation wurde
A Night of Prophecy (2002) für die Sammlung der Stiftung erworben. 2008 kommissionierte TBA21, erneut in Kooperation mit Public Press, die 19-kanalige Videoinstallation
The Torn First Pages (2004). Seit 2010 unterstützt TBA21 das fortlaufende Projekt
The Sovereign Forest.
Im Zentrum der Arbeit steht der Prozess des „Sehens", Wahrnehmens, Verstehens und Beweisens, dem Zusammenspiel von geschärften Sinnen, Gefühlen und kritischer Reflexion über die eigenen Bedingungen des Sehens – dem Verstehen des Verstehens – entwachsen, durch den die Definitionen von Beweis, Souveränität und Wahrheit ins Schwanken geraten und neu verhandelt werden.
The Sovereign Forest untersucht den rechtlich zulässigen Begriff des forensischen Beweises und fordert die institutionellen und konventionellen Grenzen des Archivs heraus um somit eine neue Bibliothek der Beweise zu erstellen, die folgendes beinhält:
a] Formale fotografische und bildliche Beweise;
b] „Gefundene" fotografische und bildliche Beweise;
c] Der Beweis der zeitlosen Fabel, in gedruckten Worten redigiert und sichtbar gemacht und eingebettet in persönlichen Objekten wie einem Fischernetz, einem Tuch, Blättern usw., mit dem Titel
The Counting Sisters and Other Stories (großes handgebundenes Buch mit handgeschöpftem Papier aus Bananenfasern)
d] Formale Tatsachenbeweise und das juristische Archiv (von einem alten Ort des Verbrechens und einem abgeschlossenem Gerichtsprozess, der über zwei Jahrzehnte dauerte. Das Buch trägt den Titel
The Prediction und handelt von der Ermordung des Gewerkschaftsführers und Bauers Shankar Guha Niyogi 1991.)
e] Ein Buch ohne Worte. Ein ähnlich großes, handgebundenes Buch mit gedruckten Kapitelüberschriften aber ohne weiteren Text, mit dem Titel
The Constitution. Mit eingebetteten Fäden und Texturen, für das Auge sichtbar, anders wenn berührt und magisch wenn von hinten beleuchtet, kann dieses Buch ohne Worte trotzdem gelesen und über längere Zeit erlebt werden. Jede Kapitelüberschrift deutet auf alte Weisheiten hin, die in nationalen Verfassungen fehlen;
f] Der Beweis, der von 272 indexierten und als Archiv präsentierten Arten von Reiskörnern erbracht werden, die aber zugleich Generationen nicht kommerziellen, nicht vermarkteten, nicht aufgezeichneten, nicht greifbaren, gesprochenen Wissens indexieren und präsentieren;
g] Gesammelte Beweise in Form von persönlichen Beiträgen zu
The Sovereign Forest, aus Odisha stammend, gesammelt während dem Jahr seit dem das Projekt permanent in Bhubaneswar zu sehen ist (offizielle Dokumente, Bilder, Zeichnungen).
The Scene of Crime (2011), der zentrale Film um den sich
The Sovereign Forest formiert, zeigt Landstriche, die bereits zur Akquirierung durch Industrieunternehmen freigegeben sind und unmittelbar vor ihrer Zerstörung stehen. In diesem Werk erforscht Amar Kanwar die erschütternde Bedeutung von Verlust und Tod. Mithilfe von Dilip Varmas Kameraführung und der meditativen Präzision von Sameera Jains Schnitt verwebt
The Scene of Crime verschiedene narrative Stränge mit unterschiedlichen Bildsprachen, Texteinschüben und versetzten Zeitdimensionen, die sich, laut Künstler, in einer Passage zu einer verwobenen mannigfaltigen Beziehung zur Welt entfalten. Die Bilder von Odishas einzigartiger Landschaft und dessen BewohnerInnen sind mit poetischer Sensibilität und intimer Präzision eingefangen und erscheinen in einer deutlichen Zurücknahme von Geräuschen und Geschwindigkeit. Die Licht- und Farbzonen bewegen sich in feinen Schattierungen und Temporalitäten und in einer sich mit Raum und Zeit des Betrachters überschneidenden und verschränkenden Zeitzone, wodurch dem Blick gewährt wird, die einzigartige Schönheit der Landschaft zu erkunden, aber auch innezuhalten in der Suche nach Evidenzen: ein Fischer wird vom lebendigen Zwitschern der Vögel begleitet, während er in der Dämmerung sein Netz auswirft; das Plätschern der Mündung, die in Richtung Meer fließt und die täglichen Aktivitäten der Fischer; das Spiel der Grashalme im Wasser; eine Kuh grast über die Wiesen; das beruhigende, friedliche Geräusch im Wind rauschenden Palmenblätter.
Zum KünstlerAmar Kanwar wurde 1964 in Neu-Delhi geboren. Er begann mit der Produktion von Filmen, nachdem er im Anschluss an sein Geschichtsstudium an der Filmschule am Mass Communications Research Center of Jamillia Millia Islamia an der Universität Delhi studierte. Während der Jahre an der Universität startete auch sein Engagement in sozialen und politischen Konflikten. Kanwar lebt und arbeitet in Neu-Delhi.
Wie er Narration, Bild und Ton in poetischer Weise mit einander verband, erlaubte ihm mit seinen für ihn typischen Stil über das bloße Abbilden hinauszugehen und sowohl die absurden und zugleich historisch gewachsenen Narben und Rituale der Teilung, die Gewalt, aber auch die Hoffnung und Träume der betroffenen Menschen festzuhalten. Sein künstlerisches Schaffen beinhalten Projekte wie
Earth as Witness (1994), einem Film, den er für die tibetische Exilregierung drehte,
A Season Outside (1997), eine filmische Auseinandersetzung mit dem indisch-pakistanischen Grenzübergang bei Wagah, der Film
A Night of Prophecy (2002), einer episodenhafte, visuelle Zusammenstellung von Protest getragener, indischer Poesie, die auf der documenta 11 gezeigt wurde; oder die Mehr-Kanal Installation
The Torn First Pages (2004), die dem wegen Verhetzung inhaftierten Buchhändler Ko Than Htay gewidmet wurde und versucht, ein Verständnis der vielfältigen Dimension der burmesischen Demokratiebewegung zu vermitteln; die Mehr-Kanal Installation
The Lightning Testimonies (2007), die verschiedene Kulturen des Erinnerns dokumentiert, bezogen auf Indiens Geschichte sexueller Gewalt und Entführungen. Schließlich, Kanwars letzte Arbeit,
The Sovereign Forest (2011), ein fortlaufendes Projekt in dem er die sozialen ökologischen Auswirkungen des Mineralienabbaus auf die lokale Bevölkerung in Odisha erkundet.
TBA21 arbeitet mit Amar Kanwar seit 2006 eng zusammen – in diesem Jahr fand die gemeinsam mit Public Press getragenen Produktion von
The Lightning Testimonies (2007) statt.