Die Eröffnungsausstellung der neuen Räume von Thyssen–Bornemisza Art Contemporary im Wiener Augarten – Simon Starling in Zusammenarbeit mit SUPERFLEX: Reprototypen, Triangulationen und Testverfahren – zeigt zentrale Werke der Künstler aus der international renommierten Sammlung zeitgenössischer Kunst der Stiftung sowie erstmals in Wien präsentierte neue Arbeiten.
Der Turner-Preisträger Simon Starling (geb. 1967) wurde eingeladen, in Zusammenarbeit mit der dänischen Künstlergruppe SUPERFLEX den neuen Ausstellungsraum Thyssen-Bornemisza Art Contemporary—Augarten zu eröffnen. Die Ausstellung umfasst zentrale Werke aus der TBA21 Sammlung sowie neue Arbeiten, die von den Künstlern eigens für Wien entwickelt wurden. Reprototypen, Triangulierungen und Testverfahren verdichtet sieben programmatische Werke von Simon Starling und SUPERFLEX in einem dialogischen Zusammenspiel.
Starlings weitreichendes künstlerisches Œuvre thematisiert fluktuierende Zustände, in denen Objekte, Geschichte(n), Erzählungen und Orte in freigelegte oder persönlich etablierte Beziehungen verwoben werden. Insbesondere fungiert dabei die Geschichte der Moderne und ihrer Rezeption als vitaler Hintergrund. Starlings Arbeiten fragen nach der Art und Weise, wie Gegenstände rekonfiguriert werden, wenn sie aufgrund von historischer Distanz und der Entwicklung neuer Objekte und Wissensregime den Kanon der Moderne irritieren. Starlings Fragestellungen sind allerdings nicht abstrakter Natur, sondern werden stets in gewissenhaften (Selbst-)Experimenten, in praktischen Testverfahren und mittels akribischer Forschungen zur Probe gestellt. Die Werke verstehen sich als Re-Prototypen – also als neuerschaffene und reaktivierte Muster vergangener Erfindungen und Erzeugnisse – und stellen sich in triangulierten Konstellationen auf, positionieren sich also mittels Dreiecksbeziehungen. Reisen (in Raum und Zeit), Transporte und Erkundungen – oft in behelfsmäßigen Vehikeln und Fahrzeugen – sind nicht nur Chiffren von Mobilität und Zirkulation. Als durchlebte Expeditionen transportieren sie Verbindungen zwischen seiner Person, disparaten Orten und vergangenen und zukünftigen Ereignissen und Erfindungen. Resultat sind vielteilige Installationen, die technologische Apparaturen, Film, Fotografie, Objekte, Performance und Publikationen miteinbeziehen.
Anlässlich der Ausstellung im Thyssen-Bornemisza Art Contemporary—Augarten und der Akquisition eines Prouvé-Dachelements für die TBA21 Sammlung hat Simon Starling ein neues Projekt entwickelt: Prouvé (Road Test). Der Architekt und Designer Jean Prouvé (1901–84) leistete als einer der wichtigsten Vertreter der Moderne maßgebliche Beiträge im Bereich des Möbelbaus und für die Entwicklung moderner Konstruktionssysteme. Prouvé (Road Test) ist der Versuch, eine Ikone modernistischen Designs aus den 1950ern aus seinem musealen Kontext zu lösen und zu reaktivieren, und damit spielerisch die Mumifizierung des Werkes von Jean Prouvé in der zeitgenössischen Museumskultur zu hinterfragen. Das Projekt folgt einer Reihe von früheren Werken und Experimenten Starlings, die gegensätzliche historische und ästhetische Bedingungen konfrontieren, Design-, Gebrauchsobjekte, obsolet gewordene Technologie oder auch Kunstwerke testen oder re-prototypisieren.
Ein Segment eines Daches, ursprünglich als Teil des Lycée Blaise Pascal in Orsay im Jahr 1956 erbaut, wurde auf einen LKW montiert und am Flugfeld Dobersberg einer Testfahrt unterzogen. Die Dachkonstruktion bildet ein Exoskelett für dieses Fahrzeug, das im fahrenden Zustand in einer absurden Wendung auf seine Aerodynamik und Funktionalität getestet wurde. Schlussendlich wanderte der LKW mit seinem modernistischen Aufsatz in das Atelier im Augarten (ebenfalls in den 1950ern erbaut), wo sein „lichthungriges Design“, das einst industrielle Produktion und Ausbildung im Nachkriegs-Frankreich mit Licht versorgte, nun ein fast parodistisches Verhältnis zu der charakteristischen Nordfensterfassade der früheren Bildhauerwerkstatt annimmt.
Eine weitere von TBA21 beauftragte und im Augarten präsentierte Arbeit ist das Projekt Kuh der Künstlergruppe SUPERFLEX. Es befasst sich mit der Geschichte des Augarten Ateliers und damit mit der Biographie seines ursprünglichen Bewohners Gustinus Ambrosi. Im Zuge der Recherchen zu den biographischen Hintergründen des Bildhauers hat sich SUPERFLEX auf eine Begebenheit konzentriert, die um eine Faszination für eine Kuh und die problematischen Auftraggeber einer Tierskulptur kreist. Das Gespenst der Kuh wird zu einem Portal in die Vergangenheit und schließlich sogar in ihrer Präsenz im Augarten zu einer unleugbaren Realität der historischen Betrachtung.
Im Jahr 1942 beauftragte Albert Speer, Reichminister für Rüstung und Kriegsproduktion, Gustinus Ambrosi mit der Herstellung der Skulptur Jungfrau mit Kuh, die im Park der Neuen Reichskanzlei als Pendant zu Louis Tuaillons schon existierenden Jüngling mit Stier aufgestellt werden sollte. Dies war der zweite Auftrag aus Berlin. In Kitzbühel fand Ambrosi eine formschöne Fleckviehkuh als Modell für sein prestigeträchtiges Kunstwerk. Im Laufe des Weltkriegs bittet er seine mächtigen nationalsozialistischen Auftraggeber immer wieder nachdrücklich, den Erhalt der Kuh finanziell zu sichern, um sie auch während der letzten Kriegswirren vor der Schlachtung zu bewahren.
Ritta und Hektor sind eine Jungkuh und ein Jungtier, die als direkte Nachfahren von der „Königin“ abstammen. Ihren Sommeraufenthalt im Garten von Ambrosis Atelier verdanken sie SUPERFLEX, die die Jungtiere aus der Tiroler Herde nach Wien bringen ließen. Hier fungieren sie sowohl als lebendiges Tor zur Vergangenheit, als auch als Zeugnis von Ambrosis Zuneigung zur „Königin“.
Die im Ambrosi-Museum ausgestellten Dokumente, die den Hintergrund zum Projekt Kuh bilden, sind eine Auswahl aus den in den verschiedenen Archiven in Wien und Berlin im Rahmen der Recherche zum Wirken von Gustinus Ambrosi zusammengetragenen Materialien. Angefangen mit seinem Antrag zur Aufnahme in die NSDAP vom Mai 1938 zeichnen sie in erster Linie Abschriften der Korrespondenz zwischen Ambrosi und seinen Auftraggebern in Berlin nach: Albert Speer und seine Mitarbeiter im Reichsbauministerium und bei der Bauleitung der geplanten Neuen Reichskanzlei in der Berliner Voßstraße, für dessen Park Ambrosi mehrere Figuren schaffen sollte. Die Aufträge datieren aus den Jahren 1938 und 1942, und die zuweilen internen Aktennotizen bezeugen auch die Thematisierung dieser Aufträge in Anwesenheit von und Abstimmung mit Adolf Hitler. Der erste Auftrag betraf eine monumentale Brunnenformation mit den überlebensgroßen Figuren Orpheus und Eurydike, Diana, Bacchus, Venus und Narziss. Der zweite Auftrag von 1942 war für besagte Jungfrau mit Kuh, von der uns nur Modelle und Vorentwürfe erhalten geblieben sind. Einige davon werden im Rahmen der Ausstellung gezeigt. Ambrosis Selbstaussage vom 4. Juli 1945 im Kontext seiner Bitte um „Dispens von der Registrierungspflicht“ für Nationalsozialisten im Sinne des Verbotsgesetzes vom 8. Mai 1945, – der stattgegeben wurde – ist in seiner Gänze wiedergegeben. Eine undatierte, handschriftliche Gesprächsnotiz Ambrosis aus der Zeit nach dem Krieg nimmt Stellung zu seiner Biographie nach 1938. Der komplette Dokumentensatz der TBA21 Recherche liegt in einem faksimilierten Buch in der Ausstellung aus. Weitere Informationen, insbesondere die historische Aufarbeitung von Oliver Rathkolb, sind in einer begleitenden Broschüre publiziert.