A Question of Evidence
20. November 2008–31. Mai 2009 | TBA21, Wien


A Question of Evidence präsentiert Arbeiten einer Auswahl von KünstlerInnen und ProduzentInnen, die eine persönliche und oftmals poetische Dringlichkeit vermitteln und dabei kritische Perspektiven auf politisch brisante Realitäten zeigen. Dabei spekulieren sie mit dem Status des Dokumentes, komplizieren sein Potenzial zur Zeugenschaft und verweisen auf die Schwierigkeit, evidenzbasiertes Material zu sammeln, zu erzeugen und zu verbreiten. Der Fokus der Ausstellung richtet sich auf Süd- und Zentralasien und auf Fragestellungen von identitärer Politik und demokratischer Reform.  

Angesichts der Einschränkung freier Meinungsäußerung und Repräsentation stellen die Arbeiten einen Appell an Prozesse der Wahrheitsfindung bzw. der einsehbaren Berichterstattung dar. Die Exponate lassen sich im Sinne ihres Zeugnischarakters, als Evidenz, begreifen. Dennoch gelingt es den gezeigten Praktiken und Formen des Engagements, weitreichende Befragungen anzuregen. Die verschiedenen Blickpunkte auf die Funktion und die Problematik von politischer Repräsentation und künstlerischer Darstellung vor dem Hintergrund von „realen“ Ereignissen und sozialpolitischen Bedingungen übersetzen sich in vielfältige künstlerische und kulturelle Praktiken wie etwa Video, Fotografie, Text, Archivmaterial, Installation und Performance.

Einige der teilnehmenden KünstlerInnen präsentieren für die Ausstellung produzierte Arbeiten, die in interdisziplinären und kollaborativen Situationen entstanden sind, wie etwa Khin Khin Su, Marine Hugonnier, Raqs Media Collective und Amar Kanwar. Dabei stehen sie oftmals mit grassroot Kollektiven oder aktivistischen Gruppierungen im Austausch, die in ihrer Recherche und Kommunikation aufgrund der restriktiven Überwachungssysteme mit Hilfe von internetbasierten Netzwerken, Video- und Film-Datenbanken und Open-Source Initiativen in Verbindung und an die Öffentlichkeit treten. 

Eine zentrale Arbeit der Ausstellung bildet die Installation The Torn First Pages (2004-08) des aus Indien gebürtigen Künstlers Amar Kanwar. Dem demokratischen Widerstand in Burma gewidmet, ist die Arbeit inspiriert von der Geschichte des Buchhändlers Ko Than Htay, der inhaftiert wurde, weil er vor dem Verkauf seiner Bücher stets die Deckblätter herausriss, die mit Propagandaparolen des burmesischen Militärregimes bedruckt waren. Für Kanwar hat das Poetische das Potenzial, als Evidenz zu dienen: „Stellen Sie sich eine formale Visualisierung von Poesie vor, als Indiz in einem zukünftigen Kriegsverbrechertribunal. Stellen Sie sich neunzehn Blätter Papier vor, die auf ewig im Wind treiben...“ 

Ritu Sarin und Tenzing Sonams Videoinstallation Middle Way or Independence? (2008) entfaltet eine facettenreiche Diskussion des sogenannten „Middle Way“-Lösungsansatzes, der eine partielle Autonomie Tibets innerhalb Chinas vorschlägt. Die Arbeit verwebt Szenen von Free-Tibet Debatten mit Interviews von Mitgliedern der tibetischen Gemeinschaft im indischen Exil und chinesischen Intellektuellen, die ihr politisches und spirituelles Engagement thematisieren. Der Chinesische Künstler Qiu Zhijie hat zwischen 2006-07 mehrere Reisen nach Tibet unternommen: Zum einen auf den Spuren von Nain Singh, des ersten Vermessers und Erkunders von Tibet, zum anderen um der Erschliessung Tibets, die 2006 mit der Qinghai-Tibet Railway vollendet wurde, mit einer symbolischen Begehung entgegenzuwirken.

Das Buch Marine Hugonniers, das in der Ausstellung gezeigt wird, enthält eine stetig wachsende Sammlung loser Gedanken, Notizen und Gespräche, die um die Frage kreisen, wie man das buddhistische Konzept der Leere im Sinne eines Nicht-Wissens („non-knowledge“) denken und künstlerisch umsetzen kann. Es entsteht eine Arbeit, in deren Titel diese Frage nachklingt: An Artwork Which Is Not An Artwork (2008). 

A Question of Evidence untersucht die Widersprüche, die dem Begriff des Dokuments inhärent sind und geht seiner Anfälligkeit für Heimlichkeiten und Akte von Selbst-Zensur nach. Auf metaphorische Weise zeigt das Pak Sheung Chuen, dessen „miracle printed cash receipts“ verschlüsselte Botschaften zum Vorschein bringen. In den Fotografien aus Heman Chongs Porträtserie Deleted Scenes (2008) sind die Dargestellten nachträglich entfernt, sodass nur noch leere Rahmen überbleiben – es entsteht der Eindruck, sie seien aus der Gesellschaft „gelöscht“. Khin Khin Su wiederum adressiert unter den sozio-politischen Bedingungen in Burma mittels interventionistischen Performances, Bannern und Installationen indirekt die Frage nach der Rolle des Künstlers in der burmesischen Gesellschaft. 

Weiters zeigt die Ausstellung Beispiele von transdisziplinär-künstlerisch ausgerichteten Archiven und Sammlungen, so etwa das tibetische Amnye Machen Institute (AMI) aus Dharamsala (Indien). Seit 1992 arbeitet das AMI an der systematischen wissenschaftlichen Aufarbeitung tibetischer Geschichte, Kultur, Gesellschaft und Politik. AMI ist dabei auch ein Verlagshaus für tibetische Schriftsteller, Wissenschaftler und Denker. Ein weiteres Archiv-Projekt ist Teil des in der Ausstellung vorgestellten Cybermohalla Hub (2008), einer architektonischen Struktur, die von den Architekten Nikolaus Hirsch und Michel Müller konzipiert und in Zusammenarbeit mit dem Cybermohalla Ensemble realisiert wurde. Dieses Projekt startete auf Initiative einer Gruppe von jungen ProduzentInnen im Alter von fünfzehn bis dreiundzwanzig Jahren, die sich in prekären Media Labs in Delhi zusammen gefunden haben. „Mohalla“ bedeutet „Nachbarschaft“ – Cybermohalla bezeichnet die Verbindung von Orten im Cyberspace mit Orten in der realen Nachbarschaft, an denen Gedanken in Form von Blogs, Fotos, Videos, Animationen, Sound-Aufnahmen, Texten, Magazinen etc. ausgetauscht werden können. Während der Ausstellung wird das Cybermohalla Hub im Ghevra-Viertel an den Grenzen Delhis errichtet, nachdem es 2007 gewaltsam geschlossen und zerstört wurde. 

Die Präsentation von Archiven in der Ausstellung soll nicht als Bezeugung fungieren, die behauptet, auf „wahren” Dokumentationen zu basieren. Was gibt einem Archiv, einem Blog oder einem Buch die Autorität, die durch sie dokumentierten Fakten für gültig zu erklären? Diese Frage schwingt in der Arbeit des Raqs Media Collective mit: Unfamiliar Tales (2008) setzt sich mit der Beschaffenheit und der Macht von Einschreibungen auseinander. Dabei verbinden sich Text und Fotografie und spinnen den humorvollen und moralischen Subtext der Jataka Fabeln weiter, die Teil des burmesischen und tibetischen Buddhismus sind, um die philosophische Bedeutung der buddhistischen Inkarnationen in ein “Nicht-Selbst-Sein” zu illustrieren.

In den gezeigten Praktiken und Formen des Engagements verweben sich Berichterstattung, Kritik, Konsequenz und Leichtigkeit anhand der Präsentation von realen oder fabrizierten Evidenzen. So gelingt es, wie es der Kulturwissenschaftler Ravi Vasudevan beschreibt, Fragen aufzuwerfen, die nicht als eindeutige Forderung nach einer definitiven Instanz zu verstehen sind.
20. November 2008–31. Mai 2009
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20. November 2008–31. Mai 2009
Thyssen-Bornemisza Art Contemporary
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Thyssen-Bornemisza Art Contemporary
Amar Kanwar, Raqs Media Collective, Ritu Sarin & Tenzing Sonam, Nikolaus Hirsch & Michel Müller  in Zusammenarbeit mit Cybermohalla Ensemble, Marine Hugonnier , Pak Sheung Chuen, Heman Chong, Khin Khin Su , Gonkar Gyatso, Qiu Zhijie 
Mit einem Projekt von Do Ho Suh
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Amar Kanwar, Raqs Media Collective, Ritu Sarin & Tenzing Sonam, Nikolaus Hirsch & Michel Müller  in Zusammenarbeit mit Cybermohalla Ensemble, Marine Hugonnier , Pak Sheung Chuen, Heman Chong, Khin Khin Su , Gonkar Gyatso, Qiu Zhijie 
Mit einem Projekt von Do Ho Suh
Wiener Städtische Versicherungsverein
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Wiener Städtische Versicherungsverein